Zur Funktion von Kunst

Wie Sie sicherlich auch schon selbst bemerkt haben, leben wir in einer unruhigen Zeit. Die alten Wertsysteme brechen zusammen, neue sind noch nicht in Sicht. Die Soziologen reden von einer Riskikogesellschaft.

Die Kommunikationswissenschaftler vom Informationszeitalter. Die Historiker vom Ende der Geschichte. Abschied von der Linearität. Ende der Gutenberggalaxis. Multiperspektive Wirklichkeiten. Freizeitgesellschaft. Ende des Sozialstaates. Globalisierung der Wirtschaft. Individualisierung der Gesellschaft. Vom Ende der Kunstgeschichte und vom Ende der Kunst ist die Rede, und das ist ein Punkt, der mich betrifft. Das heisst, die Kunst muss sich, wie auch andere Bereiche der Gesellschaft, neu legitimieren, wenn sie weiter eine relevante Funktion in der Gesellschaft ausüben möchte.

Diese Krise, von der allenthalben die Rede ist - darüber muss man sich im klaren sein - ist eine europäische Krise. Asien hat andere Sorgen, Ängste, Hoffnungen, und andere Problemlösungsstrategien. Wir stehen offenkundig in einem Kulturvergleich, und wir müssen begreifen, dass das Modell Europa, wenn es sich nicht als wandlungsfähig, reformfähig und flexibel erweist, als Modell scheitern wird, sozial, ökologisch, wirtschaftlich, politisch und ästhetisch. Es ist hier nicht der Ort für gesellschaftliche und philosophische Analysen, wann und wo der Keim für ein mögliches Scheitern gelegt wurde - trotzdem möchte ich auf einige Quellen der derzeitigen Krise verweisen. Wir leben in unserem Denken in griechisch-christlich-jüdischer Tradition, und das hat Folgen. Auf christlich-jüdischer Seite ein Schöpfergott, der alles mit einem Wort beginnen ließ und die Welt nach einem perfekten Plan schuf, und auf der anderen Seite Platon, der die Welt nur als verzerrte Materialisierung ewiger Ideen sah.

In beiden Fällen kein Gedanke an Evolution, an Veränderung, an Wandlung. Erkenntnis heißt, Plüne erkennen, die hinter der Welt stehen, um selbst planen zu können, selbst schöpferisch zu werden. Nach der griechischen Blüte startete der zweite Versuch in der Renaissance, mit dem Zusammenbruch des geozentrischen Weltbildes. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt nährte die Hoffnung, die Planbarkeit von Zukunft immer mehr Wirklichkeit werden zu lassen. Je mehr sogenannte Naturgesetze formuliert wurden, desto mehr glaubte man an die Steuerbarkeit von Mensch, Gesellschaft, Glück und anderem.

Diese Illusion der Planbarkeit wurde mehrfach erschüttert, ohne dass uns die Tragweite der Erschütterung bewusst geworden wäre. Der anfängliche Erfolg der Moderne lag in der konsequenten Anwendung kausalen Denkens, also dem Aufspüren von Ursache-Wirkungsketten. Wer die Ursache beschreiben kann, kann auch die Auswirkung beschreiben, und damit die Zukunft. Die äußerst erfolgreiche Anwendung dieses Denkens auf technischem Gebiet verführte dazu, den sozialen Bereich ähnlicher Strategie zu ordnen, also Menschen zu planen - durch Erziehung oder Gesellschaften, wie im Faschismus und Marxismus.

Die erste Erschütterung unseres Denkens kam durch die Heisenbergsche Unschärferelation, die man zunächst allerdings als Spezialproblem der Physik sah. Man hoffte, dass sie auf die makroskopische Welt keinen Einfluss habe. Die zweite Erschütterung kam durch die landläufig so genannte Chaosforschung, also die Erforschung komplexer Systeme. Dieser Forschungszweig, der im Moment enorm expandiert und in den Medien schon als Modewissenschaft journalistisch ausgeschlachtet wird, hat gezeigt, dass Unbestimmbarkeit sich nicht nur auf subatomare Phänomene beschränkt, sondern auch auf makroskopischer Ebene in den Alltag eindringt. Sie kennen ja mittlerweile alle den Begriff des Schmetterlingseffekts aus der Wettervorhersage.

Die dritte Erschütterung, die eigentlich noch gar nicht bemerkt wird, kommt aus den Neurowissenschaften, also der Neurobiologie, der Neurophysiologie und aus der Neurokybernetik. Sie hat den etwas unglücklichen Namen "radikaler Konstruktivismus". Eine gewisse Bekanntheit hat der Konstruktivismus durch die etwas populärere Literatur von Paul Waczlawik bekommen, aber die wirklichen Konsequenzen sind meiner Meinung nach noch nicht abschätzbar. Sie sind deshalb nicht abschätzbar, weil unsere bisherige Vorstellung von Wirklichkeit bzw. unsere Beschreibung von Wirklichkeit sehr erfolgreich war, so dass sie sich in Sprache, Erziehung, Menschenbild, Selbstbild festgesetzt hat und wir für die Beschreibung einer konstruktivistischen Sicht eine neue Sprache und eine neue Beschreibung finden müssen.

Wer beispielsweise eine magische Beschreibung von Welt hat, wird allen Wirkungen, Auswirkungen, also der Wirklichkeit einen magischen Hintergrund geben - alles ist beseelt, die Steine, die Pflanzen, die Wolken, der Wind. Wer eine Newton¹sche Beschreibung der Welt hat, wird die Welt als System von actio-reactio-Mechanismen erklären, also was wir heute als mechanistisches Weltbild bezeichnen. Mit diesem Weltbild konnte Newton ganz gut leben, weil er Gott zum großen Uhrmacher erklärte, der im Schöpfungsakt ein großes Räderwerk in Gang setzte, das bis heute perfekt läuft und nicht aufgezogen werden muss.

Die Welt ist also immerdas, was wir als Beschreibung von Welt wählen. Diese Beschreibungen unterliegen einem evolutionären Druck, das heißt, wenn eine Beschreibung an ihre Grenzen gerät, muss sie erweitert oder durch eine neue ersetzt werden. Die europäischen Gesellschaft stossen derzeit an ihre Grenzen der Beschreibung, und zwar an allen Ecken und Enden. Der Zerfall der Sowjetunion war das erste Signal, und der Sieg des Westens erweist sich schon jetzt als Pyrrhussieg.

Wir stoßen an politische, wirtschaftliche, soziale, ökologische Grenzen, und die Werkzeuge, mit denen wir die Krise zu bewältigen suchen, stammen aus alten Trickkisten, bei denen uns klar sein müsste, ass durch Schminken allein noch keine Leiche reanimiert wird. Wir belächeln archaische Kulturen, die in Krisenzeiten ihre Opfertätigkeit erhöhten, um die in Zorn geratenen Götter gnädig zu stimmen, die also in einem Mehr des bisherigen erfolgreichen Handelns einen Ausweg sahen. Die derzeitigen Opfer in Form von Steuern und die Bildung, die man zugunsten von Sozialleistungen allenthalben opfert, ähneln fatal jenen heidnischen Bräuchen.

Offensichtlich funktioniert der Mensch nicht nach dem Modell, das wir uns gemacht haben: weder im Bereich der Erziehung, die in der Sowjetunion im größten Freilandversuch der Geschichte einen neuen, besseren Menschen hervorbringen wollte, noch im freien Spiel der sozialen Marktwirtschaft. Das Hauptproblem, warum sich unsere Gesellschaft so schwer tut, liegt im Modell, das wir von unserer Wahrnehmung, von unserem Denken, von Information, Kommunikation und unserem Gehirn haben.

Wie so oft, oder eigentlich immer, stellt der Mensch die Richtigkeit seines Denkmodells durch Versuch und Irrtum fest. Der Mensch lernte nie fliegen, solange er sich Flügel wie ein Vogel umband und aufgeregt umher flatterte, sondern erst, als er begriff, dass das Wesentliche am Fliegen der Auftrieb ist, also eine etwas abstraktere Größe als ein gut trainierter Bizeps. Das Fahrrad, der Drahtesel, wäre nicht erfunden worden, hätte man nur versucht, vier Pferdefüße mechanisch zum Laufen zu bringen.

Mit dem Denken, also der Informationsverarbeitung, wie man fälschlicherweise sagt, ging es ähnlich. Descartes, und nach ihm eine Reihe anderer Denker, hat sich auch mit der Funktion von Nervenbahnen beschäftigt, aber Philosophen beschäftigen sich meist mit ihren Gedanken, nicht mit ihrem Denken. Und erst als sich Zuse, Turing und andere mit den ersten Rechnern beschäftigten, traten Fragen auf, auf die die Menschheit in dieser Form noch nicht gestoßen war. Bei aller kulturkritischen Distanziertheit gegenüber Computerisierung und Mediatisierung unseres heutigen Lebens müssen wir den Kybernetikern (erster und zweiter Ordnung) für ihr Scheitern dankbar sein. Das Wichtigste, was ihr Scheitern gezeigt hat, war, dass das Denken weder durch ein einfaches Rechnersystem zu simulieren ist noch durch einen hochvernetzten neuronalen Computer.

Selbst wenn neuronale Netzwerke einen bescheidenen Erfolg versprechen, sind wir noch weit entfernt von der Simulation eines autonomen Gehirns einer Fliege. Wir geraten jetzt in den Bereich der Forschung und Wissenschaft, die man mit Kognitionsforschung bezeichnet und aus der, aus unterschiedlichen Richtungen kommend, sich lose zusammensetzt, was man "radikalen Konstruktivismus" nennt. Dazu gehören die Kybernetiker (zweiter Ordnung), Lerntheoretiker, Neurologen, Neurobiologen, Evolutionsbiologen und Sprachforscher, in Bielefeld, unter dem Einfluss von Niklas Luhmann, auch Sozialwissenschaftler und Wirtschaftswissenschafter.

Der entscheidende Impuls für den radikalen Konstruktivismus kam durch die Erforschung von Nervenzellen, die Maturana und Varela 1971 veröffentlichten. Wichtigstes Ergebnis dieser Forschung ist die Selbstreferentialistät der Nervenzelle, von Maturana mit dem Begriff der "Autopoiesis" bezeichnet, einem Kunstwort aus dem Griechischen, das übersetzt "Selbsterschaffung" heißt. Was bedeutet es nun für uns, für unser Denken, wenn man davon spricht, dass die Nervenzellen - und damit auch unser Gehirn - ein selbstreferentielles System darstellen?

Fangen wir mit etwas ganz Einfachem an: Unser Informationsbegriff stimmt beispielsweise nicht. Es gibt keinen Informationsaustausch, Information ist kein Ding, keine Sache, die ausgetauscht werden kann wie Geld und Ware. Information kann beliebig vermehrt werden, ohne dass Informationsverlust entsteht (Alzheimer ausgenommen). Information ist nicht in der Zeitung, nicht im Fernsehen, nicht in Kunst, nicht in Büchern, nicht in meinen Worten. Information ist eine Konstruktion im Gehirn jedes einzelnen. Nur dort kann sie durch Irritation von außen im Gehirn erzeugt werden. Unsre Sinnesorgane liefern uns keine Information über die Wirklichkeit, sondern lediglich Reize, aus denen wir Information aufbauen. Es gibt keine direkte Kommunikation.

Heinz von Foerster sagt, wir sind hinter dem Auge blind, das heißt, das Bild, das unser Auge aufnimmt, wird nicht als Bild auf einem Bildschirm im Gehirn projiziert wie in einer Kamera, sondern das Bild in der Kamera müsste dann wieder von jemand gesehen werden, in dessen Kopf sich wieder ein Bildschirm befindet, und das in unendlichem Regress. Durch Bildgewinnungsmethoden, wie Computertomographie, wissen wir heute etwas mehr darüber, wie und wo sich Sehen im Gehirn ereignet, welche Areale beteiligt sind. Wir müssen uns immer wieder vorstellen, was es heißt, dass unser Gehirn autopoietisch arbeitet, und wir können etwas von der Konstruktionsleistung erahnen, wenn ich Ihnen eine Zahl nenne: Im alten Modell vom Gehirn gingen wir davon aus, dass die Welt mehr oder weniger 1:1 abgebildet, repräsentiert wird.

Sie sehen eine rote Blume, das Bild geht durch die Linse auf die Netzhaut und wird nach dieser Vorstellung 1:1 weitergeleitet. Ein Ton dringt an Ihr Ohr, wird vom Trommelfell aufgenommen, über Hammer, Amboss und Steigbügel weitergeleitet und vom Gehirn abgehört. Was wir sehen mit unseren Augen, ist dort draußen in der Welt; was wir hören, spüren, schmecken, riechen - ebenfalls. Dieser Gedanke ist beruhigend und weckt Vertrauen. Von Sinnestäuschungen abgesehen, ist die Welt dort draußen so wie in meinem Kopf, zumindest leben wir mit diesem Gefühl.

Es gibt uns in normalen Alltagssituationen die Sicherheit, um uns in dieser Welt bzw. in unserer Wirklichkeit zu bewegen. Aber der Konstruktivismus entlarvt diese Sicherheit als trügerisch, denn sie gründet sich nicht auf Abbildern von Wirklichkeit im Kopf, sondern auf Konstruktion von Wirklichkeit im Gehirn. Die neueren Zahlen über das Verhältnis von Außenreiz über die Sinnesorgane zu den Innenreizen im Gehirn gehen von einem Verhältnis von 1:100 000 aus.

D.h. ein Wort von mir, das über Schwingungen an Ihr Ohr dringt, wird mit 100 000 Nervenreizen im Gehirn verarbeitet. Dass das Ganze überhaupt funktioniert, liegt an der ungeheuren Kapazität unseres Gehirns, dem komplexesten Gebilde im Universum, das wir kennen. Dass uns nicht einmal bewusst ist, wie unser Denken funktioniert, liegt unter anderem daran, dass die entscheidenden Lernprozesse, also die entscheidendsten Konstruktionen von Wirklichkeit, in den ersten Lebenswochen ablaufen, an die wir keine bewusste Erinnerung haben.

Die entscheidenden Lernprozesse sind für uns selbst nicht beobachtbar, und sie werden es vielleicht auch nie sein. Ich kann hier an dieser Stelle natürlich nicht erschöpfend über den radikalen Konstruktivismus referieren, aber ich hoffe, Sie ahnen etwas von der Tragweite dieser neuen Beschreibung dieses neuen Modells unseres Gehirns. Wenn wir dieses Bild von uns genauer betrachten, entsteht ein neues Bild von Wirklichkeit und ein neues Menschenbild. Lernen ist dann etwas völlig anderes, als wir bisher angenommen haben, nämlich kein direkter Vorgang, bei dem Information von mir zu Ihen gebracht wird oder von den Eltern zu den Kindern. Lernen ist dann immer ein Selbstlernvorgang, kein Transportsystem, sondern ein Konstruktionsprinzip. Überspitzt formuliert heißt der Kernsatz: "Nichts ist lehrbar, alles ist lernbar."

Das heißt nicht, dass wir morgen die Schulen und Universitäten schließen und zum Selbstlernen aufrufen, aber wir müssen Schule und Universität an einigen Stellen neu denken und erfinden. Dass wir trotz falscher Lernmodelle lernfähig sind, liegt eben daran, dass die Lernmodelle falsch sind, also nicht von außen in unser Gehirn eindringen und die Selbstlernfähigkeit verdrängen können. Aber in den meisten Fällen richten sie so viel Schaden an, dass sie das kreative Potential in uns unterdrücken und aus unserem Gehirn lediglich einen Datenspeicher machen.

Heinz v. Foerster, der sich wie alle radikalen Konstruktivisten mit sozialen Fragen, Erziehung usw. beschäftigt, greift in einem Vortrag die Wittgenstein¹sche Frage auf, die da lautet: "Was ist eine Frage?" Er unterscheidet dann zwischen legitimen Fragen und illegitimen Fragen. Eine legitime Frage ist eine Frage, die prinzipiell unbeantwortbar ist. Wir Menschen sind allerdings so gebaut, dass wir auch unbeantwortbare Fragen beantworten, weil es die spannendsten Fragen sind. Zu den unbeantwortbaren, die man sich immer wieder stellt oder stellen muss, gehören die Fragen nach Gott, nach Sinn, nach Liebe, nach Kunst, auch die Frage, was ist Landschaft? Sie können die Liste beliebig zuhause verlängern.

Es handelt sich um Fragen, die immer wieder, in jeder Kultur, neu oder anders beantwortet werden müssen. Illegitime Fragen sind Fragen, deren Antworten bereits bekannt sind, also sogenanntes Faktenwissen: Historische Daten, Maße, Gewichte, Rechenmethoden, Grammatik, usw., das sogenannte Schulwissen. Von Foerster beklagt, dass in unserem Bildungssystem fast ausschließlich illegitime Fragen gestellt werden und der Umgang mit legitimen Fragen Privatsache bleibt. Die Massenuniversität hat ein übriges dazu getan, die Verschulung zu steigern, statt bessere Selbstlernstrategien zu entwickeln.

Ich schließe aber jetzt den Exkurs in den radikalen Konstruktivismus und komme noch einmal auf den Zukunftsstau im europäischen Denken zurück. Ich habe gesagt, dass das Menschenbild offensichtlich keine Evolutionsmöglichkeit besitzt, um mit den Zukunftsherausforderungen fertig zu werden - wir verwalten recht und schlecht den Status quo. Das lineare Weltbild, das an die Schrift gekoppelt war, muss einem multiperspektivischen Weltfilm weichen.

Unsere bis dato erfolgreiche Wahrnehmung von Wirklichkeit gründet auf zwei wesentlichen Wahrnehmungsstrategien: Die eine ist die Figur-Hintergrund-Unterscheidung, die zweite ist bewegt gegenüber unbewegt zu verrechnen. Alle Kulturen haben sich immer irgendwelche Fixpunkte, Pole geschaffen, um die Unwägbarkeiten des Lebens besser isolieren zu können. Europa hatte bis Kopernikus und Galilei eines der statischsten Weltbilder. Zwar gab es den linearen Zeitpfeil, der auf ein Ende zuläuft (nicht zyklisch wie in Asien), aber am Ende wird wieder alles neu geordnet im Jüngsten Gericht, in dem die Zeit aufhört und ewige Ruhe einkehrt. Davon sind wir, egal, ob gläubig oder nicht, in unserer Kultur bis ins Mark geprägt.

Umso irritierender war und ist es für uns, feststellen zu müssen, das wir durch die Dynamisierung unserer Kultur immer schwerer unterscheiden können zwischen "bewegt" und "unbewegt". Mittlerweile ist alles in Bewegung geraten, so dass wir nicht zwischen ruhend und bewegt, sondern zwischen unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterscheiden müssen. Worte wie Standort oder Perspektive, die ja einen definierten Standort voraussetzen, müssen durch neue ersetzt werden, um unsere tatsächliche Befindlichkeit zu beschreiben. Die erste Wahrnehmungsform, also die Unterscheidung von Figur und Hintergrund, die vor allem in Naturwissenschaften sehr erfolgreich war, ist ebenfalls an ihre Grenzen gestossen. Wahrnehmen bedeutet immer - unterscheiden.

Die Naturwissenschaften, die mit der Beobachtung von Ursache-Wirkungsketten immer feinere Unterscheidungen machten, mussten erkennen, dass Beobachten immer auch Eingreifen bedeutet, und damit "Verändern". Die Idee des objektiven Beobachters musste aufgegeben werden. Damit ist der Streit zwischen objektiver Erkenntnis in der Wissenschaft und subjektiver Gültigkeit von Kunstwerken zumindest etwas abgeschwächt worden. Ein weiteres Phänomen hat sich in die vereinfachten Ursache-Wirkungsketten eingeschlichen - das Phänomen der Emergenz bzw. der Stochastik. Bei emergenten Phänomenen zeigen sich in bestimmten chemischen oder biologischen System Phänomene, die neue unvorhergesehene Qualitäten bilden, die sich auf der räumlich darunter- oder zeitlich davorliegenden Stufe oder Phase nicht beobachten lassen. Man kann in solchen Momenten den Begriff des Wunders wieder einführen oder von Selbstorganisation reden. Ich bevorzuge das letztere, mit Staunen. Warum erzähle ich das alles? Ganz einfach, weil es etwas mit Kunst bzw. mit künstlerischer Haltung zu tun hat.

Die Kunst spielt in unserer Gesellschaft eine merkwürdige Rolle, von der ich sie gerne befreien würde. Sie hat einerseits pseudoreligiösen Charakter, und andererseits eine Stellvertreterfunktion. Wir glauben, dass wir in Europa die Keimzelle der Demokratie seien, und wir glauben, dass wir die Keimzelle des Individuums seien. Was die Demokratie angeht, so ist sie nicht viel mehr als die Verallgemeinerung des Absolutismus durch hohen Energiekonsum (der Kunde ist König und rücksichtslos). Was die Individualität angeht, so haben wir spätestens mit erfolgreicher Industrialisierung die Kunst in den Freizeitbereich und Privatbereich verbannt, von der Feigenblattfunktion des "Kunstunterrichts" und der Kunst am Bau einmal abgesehen.

Ich will hier nicht in die Rolle des Vertriebenen geraten, die Künstler haben sich zum Teil ganz bequem in der Sonderrolle eingerichtet und sind mittlerweile, bei aller Beschwörung der Autonomie von Kunst, fester Bestandteil der Freizeitindustrie. Individualität und Kreativität ist das, was vor allem in Deutschland aus der Öffentlichkeit verdrängt und durch Planbarkeitswahn und Verwaltung ersetzt wurde. Künstler und Künstlerinnen waren und sind der marginale Beweis, dass sich in dieser individualisierten Gesellschaft jeder selbst verwirklichen kann. Als sich unsere Gesellschaft urbanisierte und industrialisierte, hat sie begriffen, dass Informationen gespeichert und abgerufen werden müssen und dass sich eine zunehmend komplexer werdende Gesellschaft nicht mehr durch Zuruf oder Trommeln verständigen kann. Sie hat die allgemeine Schulpflicht eingeführt, damit jeder lesen, schreiben und rechnen kann, um die Kommunikationsmöglichkeiten den neuen Erfordernissen anzupassen.

Zu Zeiten des allgemeinen Analphabetismus war Schreiben eine Kunst und Briefeschreiber ein geachteter Beruf. Schreiben zu erlernen, ist gewiss nicht einfach, aber man kann mit 4 oder 5 Jahren schon beginnen und mit mit 12 Jahren schon eigene Gedanken formulieren und damit sein Denken beobachtbar machen. Man kann in Folge dieser Kenntnisse später sogar Kunstformen der Sprache erproben, sogenannte Literatur verfassen. Kein Mensch hatte Bedenken, dass durch die Alphabetisierung der Gesellschaft lauter SchriftstellerInnen entstünden, außer Briefeschreiber und Vorleser, die ihren Job verloren. Jetzt, am Ende der Gutenberggalaxis, wie Marshal McLuhan es formulierte, müsste meiner Meinung nach, analog zur Alphabetisierung, eine, sagen wir, Visualisierung der Gesellschaft erfolgen.

So wie uns die geschriebene Sprache unser Denken auf eine andere Art zugänglich, also beobachtbar machte, müssten wir lernen, eine Bildsprache zu entwickeln, eine Grammatik der Wahrnehmung erstellen, und zwar nicht nur für Künstler und Grafiker oder Architekten, sondern für alle Lebensbereiche. Bilder jedweder Art werden die Sprache zukünftig ersetzen, weil Bilder komplexere Zusammenhänge überschaubarer machen können als eine Sprache, die linear aufgebaut ist und entschieden mehr Zeit erfordert. Wenn wir lernen, die Grammatik, die hinter den Bildern steckt, zu formulieren, also Kriterien der Beobachtung von Bildern erstellen können, dann können uns die Billigbildchen von Werbung und schlechtem Journalismus nichts mehr anhaben. Das zu erlernen, wird natürlich Zeit in Anspruch nehmen, aber beim Schreiben akzeptieren wir ja auch vier Jahre, und lesen könne, heißt dann noch immer nicht unbedingt, einen Text auch zu erfassen.

Im Zeichnen und dreidimensionalen Gestalten überprüfen wir unsere Wahrnehmungsfähigkeit und unser Vorstellungsvermögen, so wie wir im Schreiben unser Denken beobachtbar machen. Die KünstlerInnen wissen, was Komplexität ist, die sich zu einem Ganzen formiert, zusammengesetzt aus einem Gefüge von Einzelelementen. Umgang mit komplexen Strukturen lernt man über das Herstellen von Bildern leichter als durch Schrift oder Sprache, und vor allem lernt man, mit relativer Gültigkeit umzugehen. Eine Skulptur ist nicht wahrer als ein Gemälde, und ein Gemälde ist nicht wahrer als eine Skizze, sondern hier handelt es sich lediglich um unterschiedliche Formen und Grade der Ausführung.

Die Künstler haben lange vor den Naturwissenschaften und der Philosophie die Suche nach der absoluten Wahrheit aufgeben und sich in der Relativität der Aussagen und der Bodenlosigkeit ihrer Herkunft einrichten müssen. Wenn sie aber ihren Weg gefunden hatten, manchmal mit vielen vergeblichen Versuchen, dann konnten weder mangelnde Anerkennung noch materielle Widrigkeiten sie davon abhalten, ihrer Tätigkeit nachzugehen. Das ist dann auch der Vorteil des künstlerischen gegenüber dem nichtkünstlerischen Menschen - er ist nie mehr arbeitslos, sondern höchstens mittellos. Unter einem künstlerischen Menschen verstehe ich nicht den Hersteller von Bildern oder Kompositionen, sondern den Menschen, der legitime Fragen in persönlicher Verantwortung neu formuliert, und das brauchen wir in Zukunft in allen Lebensbereichen. Denn die Zukunftsfragen, die sich uns stellen, werden ästhetisch und nicht wissenschaftlich zu beantworten sein, und um die Fragen mit einem Geschmacksurteil zu entscheiden, müssen erst einmal Geschmack ausgebildet und ästhetische Kriterien erarbeitet worden sein.

Ich wünsche Ihnen Freude bei Ihrer Arbeit, denn das ist es, was der künstlerische Mensch bei seiner Tätigkeit empfindet, so wie die Kinder ihr Spiel bei aller Anstrengung auch nicht als Arbeit empfinden, auch wenn sie beim Spiel meist mehr lernen als während der ganzen Schulzeit.