Zur Verkörperung von Wahrnehmung durch Gestaltung

(Vortrag an der Universität Karlsruhe am 12.10.2000)

Worum es geht : - Verkörperung - Wahrnehmung - Gestaltung

Drei Begriffe, die für sich allein eine Vorlesungsreihe für ein Semester füllen würden... Schon der Begriff der Verkörperung bedarf einer kleinen Eingrenzung, um nicht zu Missverständnissen zu führen. Unser Kulturkreis, das ist hinlänglich bekannt, sortiert die Welt nach gut und böse, Himmel und Hölle, Körper und Geist.

Wenn man also von Verkörperung spricht, muss man klarstellen, wenn man es denn so meint, dass es sich nicht um einen Gegensatz zur Vergeistigung handelt. Verkörperung, so wie ich den Begriff verwende, meint, dass auch geistige Aktivitäten körperliche Erscheinungen sind und nicht von unseren Sinnen separiert werden können. Unsere ästhetische Kompetenz ist genauso formbar und entwickelbar wie unser Körper im Fitness-Studio.

Unsere Wahrnehmung ist geformt worden im Laufe unserer Ontogenese (Entwicklung). Sie ist geprägt durch den Kulturkreis, durch Schule, Elternhaus und, in immer stärkerem Maße, durch die neue Medienwelt, die uns mit Bildern zumüllt oder positiv prägt - je nach Standpunkt, den wir einnehmen.

Wenn also unsere ästhetischen Welten nicht angeboren, sondern im Laufe eines persönlichen und eines gesellschaftlichen, historischen Prozesses entstanden sind, dann sind sie auch veränderbar und aktiv von uns zu beeinflussen.

Den Begriff der Verkörperung, so wie ich ihn verwende, habe ich von Humberto Maturana übernommen, der sich, zusammen mit Francesco Varela, in den 70er und 80er Jahren mit neurophysiologischen Vorgängen der Wahrnehmung beschäftigt hat und der lebende Systeme aufgrund seiner Forschungsergebnisse als autopoietische Systeme definiert.

Ich werde später noch darauf zurückkommen.

Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass wir Begriffe wie begabt und unbegabt nicht als absolute Aussagen sehen, sondern als dynamische Vorgänge, die eine mehr oder weniger hohe Plastizität besitzen und also relative Begriffe sind.

Der nächste Begriff in meiner Überschrift heißt - Wahrnehmung.

Darunter verstehen wir die Gesamtheit unserer Sinneseindrücke und deren Verarbeitung im neuronalen Netz, Gehirn genannt.

Ich stelle fest, dass die meisten Menschen bei dem Wort Wahrnehmung in erster Linie an die optischen Sinneseindrücke denken. Aber Wahrnehmung ist die Gesamtheit aller Sinneseindrücke, die wir benutzen, um Welt zu konstruieren. Aussagen über außersinnliche Wahrnehmung möchte ich hier nicht behandeln, sondern dem Freiburger Institut für Parapsychologie überlassen.

Die meisten Menschen kommen nicht ins Grübeln, wenn sie über Wahrnehmung nachdenken, weil für sie Wahrnehmung und das wahrgenommene Objekt identisch sind. Die sicherste Quelle für das Nichtgelingen von Kommunikation liegt jedoch in dem Missverständnis, dass wir von unserem Gegenüber annehmen, dass wir, da uns die gleichen Objekte umgeben, die gleiche Art der Wahrnehmung haben. Das ist nicht der Fall. Der Fall ist, dass wir hier im Raum so viele verschiedene Wahrnehmungen des Raumes haben wie Personen anwesend sind.

Für unsere Alltagswahrnehmung spielt das keine große Rolle, schließlich können wir uns nicht ständig über alle Phänomene, die diesen Egon-Eiermann-Saal konstituieren, auseinandersetzen. Für heute morgen genügt es zu wissen, dass Person X um Punkt oder nicht-Punkt 9 Uhr hier einen Vortrag hält.

Wollten wir diesen Raum im Rahmen eines Wettbewerbs beurteilen, müssten wir die unterschiedlichen Wahrnehmungen, die hier versammelt sind, austauschen und einen Konsens darüber schaffen, in wievielen Punkten dieser Raum von uns ähnlich oder gleich wahrgenommen wird. Wobei hinzugefügt werden muss, dass es prinzipiell keinen privilegierten Beobachterstandpunkt gibt. Es gibt lediglich Personen, deren Wahrnehmung differenzierter ist, die auf eine größere Vergleichsmenge zurückgreifen können.

Aber ich möchte hier keine Kriteriendiskussion über diesen Raum auslösen, sondern wieder auf die Wahrnehmung zurückkommen.

Die letzten zwanzig Jahre haben im Rahmen der Wahrheitsdiskussion, der Objektivität, der Allgemeingültigkeit eine ganze Reihe neuer Ergebnisse hervorgebracht. Für mich sind als “Künstler" zwei Stränge wesentlich, die ich interessiert verfolge: Der eine Strang ist der der Erkenntnisse der Neurophysiologie, also der Gehirnforschung, der andere Strang ist der der künstlichen Intelligenz, der Rechner und, damit verbunden, der Bereich der neuen Medien mit ihren Fragen von Simulation und Wirklichkeit.

Beide Stränge sind miteinander verknüpft bzw. im Austausch. Wer im Bereich der künstlichen Intelligenz forscht, muss auf Modelle der natürlichen Intelligenz zurückgreifen, wenn er sie simulieren will. Hierbei hat sich sehr schnell gezeigt, dass die Modelle über die Funktionsweise unseres Gehirns sehr grob waren und die Versuche, diese Modelle in Rechnern zu simulieren, keineswegs geeignet, so etwas wie Intelligenz hervorzubringen. "Schnell und dumm" könnte man verkürzt die ersten Versuche nennen.

Unsere alteuropäische, objektbezogene Denkweise hat uns dazu verführt, Karten der Gehirnregionen anzulegen und alle menschlichen Eigenschaften in bestimmten Gehirnarealen zu lokalisieren: Das Gehirn als ein großer Speicher, in dem ein Lagerverwalter namens "Ich" bzw. "Bewutßsein" Gerüche, Bilder, Sätze und Emotionen ablegt und bei Bedarf abruft; die Welt kommt als Sinneseindruck über Augen, Ohren usw. in unser Gehirn und wird dort abgespeichert.

Gott - oder wem auch immer sei Dank, dass dem nicht so ist.

Wir bilden in unserem Gehirn nicht Wirklichkeit ab, sondern errechnen in unserem Gehirn das, was wir Wirklichkeit nennen. Das heitß, wir haben keinen direkten Zugang zur Welt, auch wenn unser Ich und unser Denken die Welt uns so erleben lässt, als ob wir unmittelbar Zugang zu ihr hätten. Sie können mich hier sehen und reden hören, aber Sie können nicht sehen und hören, was Ihr Gehirn tut, während Sie mich hier sehen und hören.

Ich möchte hier nicht zu weit in die Neurophysiologie einsteigen, sondern nur auf den Umstand hinweisen, dass wir keinen direkten Zugang zur Welt besitzen und auch nie besitzen werden, von mystischen Ganzheitserfahrungen vielleicht einmal abgesehen, die aber, wie wir aus der Literatur wissen, auch nicht kommunizierbar sind.

Eine Zahl möchte ich aber doch noch erwähnen, um deutlich zu machen, wie stark das Verhältnis von außen und innen gewichtet ist. In der Hirnforschung geht man davon aus, dass auf 1 neuronalen Außenreiz ca. 100 000 neuronale Erregungszustände im Gehirn und den Nervenzentren folgen. Bilder der Außenwelt werden also nicht über die Netzhaut als Projekt auf eine Leinwand im Gehirn projiziert, sondern im Gehirn aufgrund einer gewaltigen Rechenleistung aufgebaut.

"Hinter dem Auge sind wir blind," sagt Heinz von Foerster, da die neuronalen Reize, die von der Netzhaut ins Gehirn gehen, gestalt- und bildlose Reize sind, die im Gehirn in den entsprechenden Arealen - und das sind eben nicht nur die bildverarbeitenden Areale - zu Bildern aufgebaut werden. Was in unserem Gehirn als Bildwelt aufgebaut wird, ist keine Diashow, die sich das Ich genüsslich betrachtet, denn sowohl unser Bewutßsein wie auch unser Unbewusstes muss blitzschnell entscheiden, welche Konsequenzen gezogen werden müssen, wenn ich beispielsweise einen Tiger, eine attraktive Frau oder einen Mann, oder meinen Professor sehe, dem ich letzte Woche die Abgabe des Entwurfs zugeschickt habe.

Das heißt, Wahrnehmung ist immer auch Wertung bzw. Entscheidung. Wer seine Wahrnehmung schult, schult seine Entscheidungsfähigkeit bzw. seine Unterscheidungsfähigkeit. Wahrnehmen heißt - trennen. "Draw a Distinction", heißt es zu Beginn bei George Spencer Brown, einem englischen Mathematiker und Philosophen, der auf eine ganze Reihe von Denkern und Soziologen einen starken Einfluss hatte.

"Treffe eine Unterscheidung", um wahrzunehmen. Trenne die Figur vom Hintergrund, trenne den Ton von den Geräuschen, trenne das Bewegte vom Unbewegten. Evolutionär gesehen, ist das Bewegte immer das kleinere Objekt, das sich durch seine Bewegung vom unbewegten, größeren Objekt unterscheidet. Bildhaft formuliert: Der Tiger rennt, und ich muss auf ihn reagieren; nicht die Landschaft bewegt sich und der Tiger bleibt auf seinem Platz. Die Umkehrung dieser Verhältnisse kennen wir alle von Zugfahrten, wenn im Bahnhof ein anderer Zug anfährt und wir noch stehen und trotzdem das Gefühl der Bewegung in uns entsteht.

Heute haben wir es im Rahmen der Dynamisierung aller Lebensprozesse mit einer neuen Form von Wahrnehmung zu tun, auf die wir evolutionär nicht vorbereitet sind. Immer mehr Eckdaten in unserem Leben, oder auch sogenannte Fixpunkte (feste Größen, die sich als gar nicht so fest erwiesen haben), machen es notwendig, dass wir Standortbestimmungen nicht mehr durch die Unterscheidung "bewegt gegen unbewegt" treffen können, sondern dass wir heute unterschiedliche Geschwindigkeitn gegeneinander verrechnen müssen.

Mit kulturpessimistischer Kritik können wir diesen neuen Sachverhalten nicht gerecht werden, vielmehr sind wir alle aufgefordert, neue Werkzeuge und Strategien zu entwickeln, um in dieser Beschleunigung neue Formen der Reflexion, der Distanz und der Regeneration zu erfinden. Das Bremsen allein, wie es Virilio fordert, reicht nicht aus, um die hechelnd heraushängende Zunge wieder in den Mund zu bekommen.

Ich fasse das bisher Gesagte nocheinmal kurz zusammen.

Wahrnehmung ist Unterscheidung, und Wahrnehmung ist nicht die Abbildung von Wirklichkeit in unserem Kopf als Projektion über die Sinne.

Es gibt kein Abbilden der Wirklichkeit 1:1, sondern eine Konstruktion von Wirklichkeit, und die heißt 1:100 000.

Wie trotz dieser Tatsachen Kommunikation bzw. Konsens entstehen kann, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. Wichtig ist füür uns lediglich die Tatsache, dass Verstehen, Kommunikation extrem unwahrscheinlich sind, auch wenn wir im Alltag aus Überlebensgründen permanent Verstehen voraussetzen.

Um Alltagssicherheit zu gewinnen, neigen wir dazu, nichttriviale Vorgänge zu trivialisieren, das heißt wir gehen davon aus, dass der oder die andere genauso denkt, wahrnimmt, wie wir selbst. Wir erleben unser Gegenüber nicht als Black Box, bei der Input und Output kausal nicht immer nachvollziehbar sind, sondern wir behandeln unser Gegenüber als triviale Maschine, bei der wir alle Operationen kennen, und bei Nichtfunktionieren nach kurzem Check den Vergaser, das Zündkabel oder die Benzinpumpe austauschen, damit alles wieder läuft.

Vielleicht erscheint dieser Vortrag bis hierher nicht so recht passend für einen Künstler, aber ich denke, es ist von eminenter Wichtigkeit zu wissen, wie Lernen geschieht, wenn man lehren will.

Lernen ist kein Wissenstransfer vom Professor auf die Studierenden. Kommunikation ist kein Austausch von Information, sondern die geschickte Irritation des Gegenüber, damit das Gegenüber die gleiche Information herstellt (konstruiert), die ich als Partner schon habe.

Lernen ist immer selbst lernen, wir sind alle Autodidakten, deren Hauptaufgabe darin besteht, für uns und andere Lernsituationen zu erzeugen, die geeignet sind, dass Lernen sich ereignen kann. Die Tatsache, dass unsere Schulen und auch die von anderen Lernmodellen ausgehen, heißt nicht, dass das autopoietische Modell nur bedingt richtig ist, sondern nur, dass wir trotz falscher Modelle manchmal richtige Ergebnisse erzielen können. Wenn man jahrelang gedrillt wird und mechanisch lernt, kann man, trotz mechanistischem Lernmodell, je nach zu vermittelndem Stoff gewisse Erfolge erzielen.

Das alte Lernbild - und damit auch das alte Menschenbild bzw. Gehirnmodell - versagt allerdings kläglich, wenn sogenannte schöpferische Tätigkeiten vermittelt werden sollen. Daher die Allerweltsausrede für das Scheitern klassischer Lehrmethoden bei "Fächern", in denen sogenante Begabung vorausgesetzt werden muss: Mangelnde Begabung. Das alte Lernmodell versagt nicht erst bei kreativen Fächern, sondern es versagt auch bei den anderen Fächern, nur dass man das Scheitern in den sogenannten nichtkreativen (Lernfächern, sagt man dann) Fächern nicht auf mangelnde Begabung zurückführt, sondern auf Lernunwilligkeit, mangelnden Fleiß und Einsatz.

Wir können hier jetzt wieder einen Sprung zur künstlichen Intelligenz machen.

Mein Titel lautet: "Zur Verkörperung von Wahrnehmung durch Gestaltung."

Die KI-Forschung hat anfänglich versucht, Intelligenz durch immer intelligentere Programme zu erzeugen. Aber die Rechner wurden lediglich schneller, bis man entdeckte, dass lernende Systeme dadurch intelligenter werden, dass wir sie in Lernsituationen bringen und mit den notwendigen Sensoren ausstatten, damit sie ihr Wissen durch Interaktion mit der Umwelt selbst aufbauen.

Man stopft kein Wissen in die Maschine hinein, sondern stattet die Maschine mit künstlichen Augen und Ohren aus und sorgt lediglich dafür, dass ihr nicht Hören und Sehen vergeht. Den Rest erledigt die Maschine im Rahmen ihrer Kapazitäten selbst. Damit nähert sich diese Maschine allerdings immer mehr einer nichttrivialen Maschine (Black Box), das heißt, ich kann als Beobachter nicht mehr genau sagen, aufgrund welcher Programme die Maschine diese oder jene Reaktion zeigt, da die Programme sich durch Interaktion in der Umwelt modifizieren, verändern und erweitern.

Unsere Welt wird in immer stärkerem Maße mit solchen Maschinen angereichert, die uns mit Ergebnissen konfrontieren, bei denen wir entscheiden müssen, ob wir die Ergebnisse annehmen oder ablehnen. Das Entwickeln, das Herstellen, das Gestalten von Bildern beschleunigt sich von Jahr zu Jahr. Bildbearbeitungstechniken werden immer leichter handhabbar. Was jedoch nicht im gleichen Maße sich beschleunigt, ist die Kompetenz, mit solchen Bildern umzugehen. Leider leben wir nicht mehr in der Gotik, in der ein verbindlicher Kanon und Kriterienkatalog vorlag, sondern im Jahr 2000, in dem, wie schon erwähnt, auch die Fixpunkte in Bewegung geraten sind und wir gezwungen, das Fundament unserer Handlungen immer neu herzustellen.

Man kann natürlich in einer solchen Situation auch eine Wertediskussion führen und sich auf vermeintliche Grundwerte zurückziehen, sich kulturpessimistisch abwenden, oder man kann ästhetische Entscheidungskompetenz erwerben. Das geschieht immer noch am besten, indem man der Bilder-, Formen- und Objektflut, die uns entgegenschwappt, eigene Bilder entgegensetzt.

Angesichts einer Wissensflut und Speichermenge hat es wenig Sinn, möglichst viel Wissen in uns zu stopfen, zumal das Wissen in immer kürzeren Abständen veraltet. Vielmehr ist es notwendig, Grundkompetenzen im Umgang mit Wissen zu erwerben.

Die Welt ist für mich so reichhaltig, vielfältig oder auch so arm wie mein Sensorium, mit dem ich Welt wahrnehme. Die Ausdifferenzierung unserer Sinne durch eigenes Handeln, sprich Gestalten, ist die Grundkompetenz schlechthin, mit der wir uns in der Welt bewegen.

Die künstlerische Tätigkeit ist der Suchraum oder Lernraum, in dem solche Kompetenzen bis zu einem gewissen Grad zweckfrei erworben werden können.

Bildhafte, plastische, räumliche Kompetenz könnte man auch mit dem Aufbau eines Immunsystems gegen Bedeutungsmüll vergleichen.

An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, meine künstlerische Position gegenüber der Architektur zu erhellen, wie Sie es in Ihrem Schreiben von mir erwarten.

Ich könnte jetzt natürlich sagen, dass meine Position zur Architektur darin zu erkennen ist, dass ich an einer vergleichbaren Stelle seit sechs Jahren unterrichte, aber Hannover ist weit, und allein die Tatsache, dass ich dort lehre, sagt noch nichts über meine Position aus.

In meinen Unterlagen finden sich einige Texte, unter anderem das Papier "Kunst ist kein Fach", in dem ich einige Punkte zur Funktion von Kunst im Rahmen der Architektur dargelegt habe. Wenn Sie mehr als das hier Gesagte wissen wollen, können Sie es dort nachlesen. In der Kürze der Zeit kann ich meine Position auch nur grob skizzieren.

Der Kunstbegriff seit Marcel Duchamp und der erweitere Kunstbegriff seit Beuys, Fluxus und was uns die letzten drei Jahrzehnte so beschert haben, ist sicher nicht als Lehrinhalt ungefragt in die Architektur überführbar. Das System Kunst, so wie es an Akademien, in Ausstellungen, Galerien und Museen funktioniert, ist ein selbstreferentielles System, in dem Kriterien wie Gestaltung und ästhetische Qualitäten nicht mehr unbedingt Primärkriterien sind.

Ich habe es vorgezogen, dieses Kunstsystem nicht als meine alleinige Heimat zu wählen, weil mir an der Rückbezüglichkeit der Kunst zu anderen gesellschaftlichen Bereichen gelegen ist. Damit meine ich nicht die Rückbesinnung auf bildungsbürgerliche Werte, indem man als Ausgleich zur geistigen Verarmung durch Globalisierung und Kapitalisierung unserer Gesellschaft sich ästhetische Nischen bewahrt, sondern durch gestalterische Kompetenz physische und geistige Räume schafft, die selbstverständlicher Bestandteil unserer Kultur sind.

Wenn man die Hochschuldiskussion verfolgt, stellt man fest, dass wir vor einer Flurbereinigung stehen, die sich Reform nennt. Gerade die sogenannten kreativen Fächer stecken in einer Legitimationskrise, wenn Kriterien wie Effizienz, Berufsfähigkeit und Verwertbarkeit im Vordergrund stehen, und wenn zudem noch Forschungsbegriffe übergestülpt werden, bei denen wir gegenüber Elektrotechnikern und Maschinenbauern immer den kürzeren ziehen werden. Allein der Verweis auf die historische Tatsache, dass Kunst und Architektur schon immer kulturelle Eckpfeiler waren, greift weder im Finanzministerium noch im Kultusministerium.

Wenn man liest, welchen Menschentypus die Wirtschaft oder die Unternehmensberater heute beschwören, um die Zukunftsanforderungen zu bewältigen, dann scheint die stromlinienförmige Verschlankungstendenz wie eine Paradoxie. Dort ist von einem kreativen, flexiblen Typus die Rede, der über soziale und kulturelle Kompetenz verfügen soll, ohne dass gesagt wird, wie und wo und wodurch diese erworben werden soll. Crash-Kurse in Wochenend-Workshops reichen nicht aus, um den Typus hervorzubringen, den wir suchen.

Der kreative Typus entsteht nicht durch Nachdenken, sondern durch Handeln. Er entsteht nicht durch Scheinsicherheiten, die man ihm oder ihr vermittelt, sondern durch den Umgang mit Unsicherheiten und Ungewissheiten, will er nicht in postmodernen Beliebigkeiten des "anything goes" herumpaddeln.

Eine Funktion von Kunst, eine Position von Kunst innerhalb einer Architekturfakultät könnte es sein, den Umgang mit Bodenlosigkeit und Ungewissheit zu üben und handlungsfähig zu bleiben. Die Kunst hat dort, wo sie authentisch war, ihre Funktion für die Gesellschaft und ihre Kraft nicht im Herstellen von ästhetischen Objekten entfaltet, sondern in der Tatsache, dass sie jenseits eines Entlohnungssystems Dinge hervorgebracht hat, deren Akzeptanz ungewiss war.

Wo andere den Bereich des Notwendigen als Suchraum hatten oder haben, hat die Kunst den ihren im Bereich des Möglichen und im Bereich des Unwahrscheinlichen, und damit hat sie zur Erweiterung unserer Kultur beigetragen.

Eberhard Eckerle 12.10.2000